domenica 11 novembre 2012

Heilende Geschichten

In erster Linie bestand mein „Ego“ daraus gegen mein „böses Ego“ vorzugehen. Ich glaube, dass ich dabei nicht die Einzige bin. Bei anderen Menschen, die auch schon mal davon gehört haben, dass die menschliche Existenz in Sein und Ego gespaltet werden kann, beobachte ich ähnliches, wie an mir. Nur dürften wir unser Vorgehen wohl individuell verschieden beschreiben.

Ich genoß es immer bei meinen „Shiatsu- und Psychologen-Freunden Katzen und Garten zu hüten, weil ich mich dann durch ihre Bibliothek lesen konnte. Ihre besteht neben ein paar Romanen aus einer gigantischen Sammlung von therapeutischen Ideen, wie man das überwinden kann, was einem zur Idee der Therapie bewegt hat. Vor allem mochte ich die Do-it-Yourself-Progamme, wie man sich eben von bösen Egos und leidtragenden Lebenshaltungen zu lösen vermag. Daneben finde ich geschriebenes, philosophisches und spirituelles Gedankengut, das mein Weltbild bestätigt, oder ich es nicht verstehe, weil es jenseits meiner Einordnungsfähigkeit liegt.
Das Vergnügen an der Fülle neuer Ideen, die mich im Vorgehen gegen mein Ego unterstützen, ließ diesmal die gewohnte Euphorie missen. Letztlich signalisierten alle diese Lebensberatungskonzepte die Notwendigkeit etwas verändern zu müssen und führten bei aktuellen Auftenhalt in der Oase der Ruhe zu einer latenten Unzufriedenheit.

So widmete ich diesmal meine Aufmerksamkeit neben durstigen Blümchen und leise miauenden Katzen einem ganz anderen Lesestoff, dem Roman „Das Herzenhören“ von Jan-Phillipp Sendker. Durch die Botschaft jenes Buches, so wie ich sie aufnehmen wollte, dass Liebe bedingungslos ist, löste sich die Härte, mit der ich mein armes Ego auszumerzen versuchte und dabei meine lebendige Existenz angegriffen hatte. Nach stundenlangen Weineruptionen stellte sich Erlösung ein. Wellen aus meiner Körpermitte hatten ohne Auftrag vom Verstand mein Zwerchfell zum Beben gebracht, mich leichter gemacht und mir mein Bedürfnis nach Liebe erlaubt. Ich musste an den kleinen Kay aus „Die Schneekönigin“ denken, der sich nach der Lösung der Spiegelsplitter aus seinem Herzen plötzlich wieder an die Liebe erinnerte.

Seit der Überschreitung der Lebensmitte bestand die Identität meiner Persönlichkeit in erster Linie darin, eine neue anzunehmen. Man kann sich das so vorstellen, dass nahezu alles, was ich tue, denke und fühle in irgendeinerweise dazu beitragen soll, zukünftig etwas anderes zu tun, zu denken und zu fühlen, natürlich in einem günstigeren Ausmaß an Belastung durch irgendwelches Leiden als gegenwärtig. Wobei ich schon lange nicht mehr hinterfragt hatte, ob dieses Ausmaß tatsächlich noch so groß war, dass es eine komplette Wandlung erforderlich gemacht hätte. Ich war stur diesem Bewegungsmodus in Richtung eines vermeintlich veränderten Bewusstseins gefolgt. In dieser Identität des Strebens lag meine Motivation, mich mir auseinander zu setzen und die Falle, nie aus dem Status etwas vorzuhaben herauszufinden. Es waren nicht die vielen Bücher über Psychologie und Weiheitslehren, sondern ein Roman, der mir zumindest für die Stunden der Tränen eine Erlösung von der Überzeugung schenkte, dass für die Erfahrung der Liebe ein ständiges Vorwärtsstreben notwendig sei.

Ausreichend psychologisch bewandert weiß ich natürlich, dass es nie zu diesem dauerhaften, Kraft zehrenden Identitätsaufbau gekommen wäre - in meinem Fall noch einer zusätzlichen Anstrengung, sich eine selbst erkennende Identität zu geben und Energie aufwendig mein Bewusstsein zu erweitern - wenn ich der Existenz der Liebe gewiss gewesen wäre.

Es gibt wohl heilende Geschichten.
Es gibt offensichtlich Autoren, die es wagen sich Gefühlen anzunähern, die allgemein misstrauisch beäugt oder als nicht existent verleugnet werden. Vielleicht weil sie weh tun könnten, wenn man ihnen Existenz einräumt.
Es gibt anscheinend Männer, die eine Ahnung von solchen Empfindungen haben und diese auch noch in Worte fassen können.
Es gibt offenbar Journalisten, die über die Liebe schreiben, und weil man ihnen nachsagt, dass sie sich mit knallharten Fakten beschäftigen, sie ebenfalls zur gegebenen Tatsache werden lassen.

Als Frau, die sich erinnert, regt sich der Wunsch Sie, Herr Sendker, kennenzulernen, meine Erinnerung an Ihrer Gegenwärtigkeit andocken zu lassen. Doch ich lege ihn wieder beiseite. Denn ich habe mich erinnert, also ist diese Präsenz auch in mir.

Vielen Dank, lieber Herr Sendker für diese wunderbare Erkenntnis.

Herzlichst UMG